Was ist Arbeitssucht?

Laptop und PC verstaerken Arbeitssucht bis zum Burnout.

Ein Warnschuss ist oft die beste Therapie - noch vor dem Burnout


Vier Wochen vor den Sommerferien bat mich ein Familienvater um Rat, da er ohne „Vorwarnung“ von seiner Familie vor die Wahl gestellt wurde: „Entweder Du fährst ohne Laptop mit uns in den Urlaub, oder wir fahren ohne Dich!“ Er erzählte mir, er habe eine verantwortungsvolle Position in der Firma und müsse unbedingt Tag & Nacht und auch im Urlaub erreichbar sein. Ohne ihn würden die Projekte nicht laufen und seine Familie würde schließlich von dem Luxus, den er ihnen Jahr für Jahr zur Verfügung stellen würde (tolles Haus, mehrere Autos, schicke Reisen etc.) sehr gut profitieren. Frau und Söhne teilten ihm jedoch mit, er wäre „süchtig fixiert“ auf seine Arbeit.

Arbeitssucht war in Deutschland lange ein gesellschaftlich anerkanntes Phänomen


Unsere Gesellschaft belohnt leistungsstarke, zielorientierte und taffe Persönlichkeiten. Daher ist überdurchschnittliches Leistungsstreben sehr häufig verbreitet. Bei oberflächlicher Betrachtungsweise ist Arbeitssucht sogar gesellschaftlich „anerkannt“, sodass der Betroffene diese Sucht sehr lange unerkannt ausleben kann. Arbeitssucht drückt sich durch ein überdurchschnittliches Arbeitspensum mit zwanghaftem Verhalten aus. Erste Warnsignale, wie beispielsweise Konzentrationsstörungen oder Erschöpfungszustände, werden erst einmal gerne verdrängt. Es gibt schließlich Aufputschmittel, die zunächst einen noch stärkeren Arbeitseinsatz möglich machen.

Wie macht sich die Fixierung auf permanente Leistung bemerkbar?


Oftmals sind Arbeitssüchtige Perfektionisten, denen es niemand recht machen kann. Zwangsweise glauben sie dann, dass sie alles alleine machen müssen. Keiner ist gut genug, delegiert wird nur ungern, da sie sowieso alles später korrigieren müssten. Diese Haltung belastet sie natürlich zusätzlich. Ein Teufelskreis beginnt, sodass sie auf die Frage, welche Leistung sie tagtäglich vollbringen, erst einmal keine Antwort haben.  Nicht nur in der Wirtschaft gibt es diese Perfektionisten. Die zu Hause alles alleine organisierende Ehefrau, auch „Familienministerin“ genannt, kann perfektionistisch veranlagt sein. Sie managt die Kinder, deren Ausbildungen, Termine, Feste und den gesamten Haushalt - ohne sich einzugestehen, dass auch sie der Arbeitssucht verfallen ist.

Diese ständig überhöhten Anforderungen an sich selbst und andere führt dazu, dass von einem Projekt zum nächsten gehetzt wird, um Erfolge zu sammeln. Es muss immer weiter gehen – oft bis zu chronischen Erkrankungen, wie Burnout oder sogar Herzinfarkt. In Managerkreisen ist man auch noch stolz darauf. Schließlich hat man sich diese Krankheiten „hart erarbeitet“.

Ursachen der Arbeitssucht


Die Gründe für das Fluchtverhalten in die Arbeit liegen meist in der Persönlichkeitsstruktur und in der Lebensbiografie. Oftmals haben die Arbeitssüchtigen frühzeitig die Erfahrung gemacht, dass sie nur von den Eltern oder anderen wichtigen Bezugspersonen gelobt und geliebt wurden, wenn sie Leistung erbracht haben. Das positive Selbstwertgefühl definiert sich also nur über die eigene Leistung, den „Arbeitserfolg“ und nicht auch über andere wichtige Fähigkeiten. Das Zeigen von Mitgefühl, Kooperationsbereitschaft oder andere positive Kommunikationsformen werden nicht anerkannt. Häufig hatten die Betroffenen selbst ein Elternteil als „arbeitssüchtiges Vorbild“, mit dem sie sich frühzeitig identifizierten. Ihr gesamter Ausbildungs- und Berufsweg, sowie ihre Arbeitseinstellung unterliegen diesem frühen Einfluss.

Anerkennung wird mit Zuneigung verwechselt


Gerade in sogenannten „wirtschaftlich erfolgreichen“ Familien werden auf ganz subtile Art und Weise Kinder auf Leistung konditioniert. Unbewusste Verhaltensmuster und Glaubenssätze werden übernommen. Wenn Kinder gut funktionieren und alles richtig machen, werden sie gelobt und reichlich beschenkt. Schnell entsteht daraus der Eindruck, dass Liebe und Anerkennung das Gleiche sind. Dem ist natürlich nicht so. Anerkennung sollten Kinder bekommen, weil sie bestimmte Anforderungen erfüllen, aber Liebe und Zuneigung sollten sie erhalten, weil sie so sind, wie sie eben sind. Kinder, die jedoch so konditioniert wurden, laufen ihr ganzes Leben „Belohnungen“ hinterher, um eine scheinbare Steigerung von Zuneigung zu erhalten. Anfangs von den Eltern, später von Lehrern und dann von jedem potenziellen Arbeitgeber. Ständig suchen sie nach Anerkennung, was aus ihrer Sicht einer Zuneigung gleichkommt. Es ist schön und wertvoll Anerkennung zu bekommen, sie sollte jedoch nicht an Liebe „gekoppelt“ werden.

Arbeitssucht und Beziehungspflege sind nicht zusammen möglich


Hauptsächlich sind Familie und enge Freunde (falls es sie neben der Arbeit noch gibt) negativ durch diese Sucht betroffen, da der Arbeitssüchtige das Privatleben gar nicht mehr genießen kann. Sein Denken und Handeln kreist nur um seine Arbeit, die ihn langfristig noch nicht einmal glücklich macht. Sollte die Familie genug von nervenaufreibenden Urlauben haben, in denen nur über die Arbeit und deren mögliche Verbesserung nachgedacht wird, stürzt das „Arbeitsweltbild“ des Süchtigen zusammen. Er fühlt sich, wie mein Familienvater, unverstanden. Er leistet viel und bekommt nicht die nötige Anerkennung. Konflikte, Streit und Trennungen sind vorprogrammiert.

Wenn Arbeitssüchtige keine Familie haben, hinterlassen sie nicht so viel „verbrannte Erde“, da die meisten Freunde und Bekannten nur Menschen sind, mit denen sie eh nur kurze oder langfristige „Arbeitsbündnisse“ eingehen. Stabile Freundschaften können dadurch nicht entstehen.

Hinter zwanghaftem Verhalten steckt ein Fluchtmechanismus


Sehr häufig fehlt im Privatleben eine Konfliktbereitschaft, sodass bei jeder kleinsten Auseinandersetzung „davongelaufen“ wird. Beziehungsprobleme mit dem Partner oder den Kindern werden zwar zur Kenntnis genommen, aber nicht bearbeitet. Alltägliche Konflikte werden von Arbeitssüchtigen nicht mit solch einer Akribie verfolgt wie die Herausforderungen im Beruf. Schwierigkeiten im Alltag spielen keine wesentliche Rolle in ihrem Leben. Im Gegenteil, das würde sie nur von ihrer „wichtigen Arbeit“ abhalten. So merken die Betroffenen gar nicht, dass sie ihrem eigentlichen LEBEN davonlaufen.

Die Flucht in die Arbeit ist hier der vermeintliche Ausweg. In „hektischer Betriebsamkeit“ fühlt sich der Betroffene sicher. In diesem Gebiet weiß er um seine Fähigkeiten, hier kann er gut sein und glänzen. Die „Arbeit“, die eigentlich in die schwierige Beziehung gesteckt werden sollte, wird auf ein anderes Territorium verlegt.

Wege aus der Arbeitssucht


Mein „arbeitssüchtiger Familienvater“ fühlte sich schlecht behandelt und verstand nicht die Reaktion seiner Familie. Unverstanden wollte er erneut in seine Arbeitswelt flüchten und auf den gemeinsamen Urlaub verzichten. Für meine Beratung oder ein Mentoring-Programm hatte er „keine Zeit“. Von einer neuen Wertehierarchie und alternativen Verhaltensweisen wollte er auch nichts hören. Durch seine Arbeit war er Effizienz gewöhnt, daher sollte eine „schnelle Lösung“ her. Also probierten wir durch Hypnose zur Ursache seiner „Arbeitswut“ zu gelangen. Ich klärte ihn zuvor auf, dass er eine „bittere Pille“ schlucken müsse, nämlich die, „seiner eigenen Wahrheit“ ins Gesicht zu schauen. Und tatsächlich - er fand heraus, welche Ängste unter der Arbeitssucht verborgen lagen. Er wurde sich auch des Unterschieds bewusst, wann er seiner Arbeit mit erfüllender Leidenschaft nachgeht und wann er so mit ihr identifiziert ist, dass er sich selbst und seine Familie übersieht.

Bewusstseinstraining und bewusste Körperwahrnehmung sind ein Prozess


Intellektuell verstehen wir alle, dass das Leben und unser Körper stets die Balance von Anspannung und Entspannung benötigen. Den Ausgleich zwischen Stress und Belohnung. Aber in unserem Alltagsleben braucht es die bewusste Steigerung unserer Wahrnehmungsfähigkeit, damit regelmäßige Pausen eine Erschöpfung verhindern können.

Mein Klient ist dann doch mit seiner Familie in den Urlaub gefahren.  Sein Laptop war zwar mit dabei, aber auch umsetzbare Entspannungstipps und seine gelernte Selbsthypnose. Seine Familie hatte mit ihm einen Plan mit festgelegten „E-Mail-Check-Zeiten“ aufgestellt, der von den Söhnen akribisch nachgehalten wurde. Alle empfinden sich wieder als Team. Es gibt nach Jahren ein gemeinsames Miteinander. Wenn eine Fixierung wegfällt, läuft eine positive Entwicklung in vielen Bereichen einfach von alleine weiter. Das Gefährliche an der Arbeitssucht ist eben nur, dass sie länger als andere Süchte unentdeckt bleibt. Unsere Gesellschaft belohnt zunächst diesen unermüdlichen Einsatz, der oft in schlimmer Krankheit enden kann.

Manchmal braucht es jedoch keinen Burnout – sondern nur einen „familiären Anstupser“.


Tamara Heuser